Am Ende des Schuljahrs 2025 durften die scheidenden Schülerinnen und Schüler des Kunstzweigs der zehnten Jahrgangsstufe die grauen Wandpfeiler auf den Gängen der Schule mit Motiven ihrer Wahl bemalen. Die Teilnahme war freiwillig und gab den besonders Interessierten die Möglichkeit, sich nach den anstrengenden Abschlussprüfungen noch einmal künstlerisch auszutoben – richtig großflächig!
Als Nicole Reichel (10c) mir auf ihrem Handy einen Entwurf für ihren dreiseitigen Wandpfeiler zeigt, bin ich erstaunt, wie viel sie sich vorgenommen hat.
„Das gefällt mir gut“, sage ich ihr. „Ich weiß aber nicht, ob Du das in der kurzen Zeit schaffen wirst – Du bist ja nicht mehr lange bei uns. Was soll’s? Fang halt einfach mal an. Dann sehen wir schon.“
Und Nicole fängt an: Sie trägt Farbtuben, Paletten, Wasser, Farbroller, usw. vom Kunstsaal durch die langen Gänge und streicht dann die drei Seiten ihres Pfeilers zunächst mal in hellem Grün. Danach entstehen blaue, rosa und gelbe Flächen, die sie übrigens mit ihren Händen malt.
Am nächsten Tag fertigt sie erst Bleistiftskizzen auf dem getrockneten Pfeiler und beginnt dann zu malen – diesmal mit Pinseln. Ich schaue immer wieder bei ihr vorbei, um zu sehen, wie es vorangeht: Es geht erstaunlich schnell voran. Am Ende einigen wir uns, dass sie Überstunden machen darf – wer bin ich, die Künstlerin aufzuhalten?
In den folgenden zwei Tagen gibt Nicole alles. Sie ist ganz Künstlerin, geht komplett im kreativen Prozess auf und macht dabei jedes Mal Überstunden. Zwischendurch schenke ich ihr eine Schachtel italienischer Buttertrüffel, um mich für ihren tollen Einsatz erkenntlich zu zeigen.
Nach dreieinhalb Tagen hingabevoller Arbeit steht Nicole vor ihrem Pfeiler und sieht sich ihr fertiges Werk an – sie hat noch Farbe im Gesicht und an den Händen. Ich stehe staunend daneben. Sie macht ganz bescheiden ein paar selbstkritische Bemerkungen, aber ich wiegle nur ab und lobe ihre Arbeit in den höchsten Tönen. Ich kann kaum glauben, was meine Schülerin in der kurzen Zeit geschaffen hat.
Was ich vor mir sehe, ist eine wunderbare Liebeserklärung an die Welt der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei. Ich erkenne Vincent van Gogh und Frida Kahlo. Darüber zitiert Nicole gekonnt zwei Meisterwerke der italienischen Renaissance: Filippo Brunelleschis Geburt der Venus und Michelangelo Buonarrotis Erschaffung Adams. Und noch vieles mehr ziert diesen Pfeiler, der vor dreieinhalb Tagen noch grau war.
Auf der mittleren der drei Pfeilerseiten hat sich Nicole selbst verewigt: Sie hält lächelnd einen Stift, aus dem eine blaue Fontäne spritzt. Über und unter dem Selbstporträt steht in roter Farbe „Pick the pen up“. Was für eine schöne Botschaft damit doch von diesem Werk ausgeht: „Nimm den Stift in die Hand und sei kreativ! Hauptsache, Du fängst an! So haben das diese Künstler auch einmal gemacht! Kunst ist schön und macht Freude!“
Als Kunstlehrer freut mich Nicoles Pfeiler mit der Nachricht ganz besonders, denn er ist ein Aushängeschild für den Kunstzweig an unserer Schule! Immer wenn ich bei den Eltern der Schülerinnen und Schüler für unseren Kunstzweig werbe, sage ich: „Es geht in Kunst um mehr, als einfach nur ein Bild zu malen. Wir sehen die Welt und setzen uns kreativ mit ihr auseinander – es geht also um Kreativität an sich! Und kreative Menschen werden immer gesucht!“
In dem Sinne wünsche ich Nicole alles Gute für ihren weiteren Lebensweg und bedanke mich im Namen der gesamten Schule ganz herzlich für das tolle Abschiedsgeschenk, das sie uns am Ende des Schuljahres 2025 gemacht hat.
Danke, Nicole!
Peter Ritter